Waldeinsamkeit.

Über das einzige indigene Volk Europas, kleine Begegnungen und den Genuss der Natur.

Die Bedeutung des Wortes 'lagom' und warum ich 'fika'-Fan bin.

Und was Schweden sonst noch so ausmacht.

 

 

Das liebliche Schweden. Über einen Monat fuhr ich nun durch das Land. Die Landschaft ist weitaus weniger abwechslungsreich als die norwegische Küste. Von der Grenze bis Kiruna ziehen sich noch die Ausläufe der Berge dahin. Bald hören auch diese auf. Stattdessen wird nun der Wald, welcher im Norden recht dünn und niedrig gewachsen ist langsam immer dichter und höher. Ein See nach dem anderen taucht auf. Alles wirkt weniger spektakulär, aber eben auch weitaus weniger rauh. Das Wetter ist beständiger. Zwar ist es auch hier nicht wirklich warm, aber das scheint am Sommer '17 allgemein zu liegen, wie mir viele versichern. Ich bin glücklich, solange ich nicht wieder im Dauerregen radele. Anfangs sehe ich kaum Häuser, nur alle 50-100 km tauchen gefühlt welche auf. Ansonsten fahre ich durch viel Wald und Sumpflandschaften, nicht zu vergessen immer wieder die Seen. Am liebsten würde ich nur auf Gravelroads fahren, aber leider scheinen sich diese im hohen Norden nicht wirklich zu verbinden. Ich finde nämlich keine Routen, nur Ausläufer nach links und rechts. Erst nach einer Weile kann ich endlich von der geteerten Straße weg und finde offroad Pisten - sie kosten zwar mehr Zeit, da sie antrengender sind zu fahren und ich auch viele Zick Zacks mache, aber ich habe Ruhe. Absolute Ruhe. Sehe meist nur Rentiere, Elche und vielleicht ein - zwei Autos pro Tag. Irgendwann beginnen dann die typischen roten Häuser. Sie stehen inmitten von Blumenwiesen und reihen sich in die sanften Hügellandschaften. Seen rechts und links. Felsen schauen hervor. Bauernhöfe mit mehreren Häusern erinnern an frühere Zeiten. Alte Holzzäune trennen die Kühe von den Pferden und runden das Bild ab. Ich befinde mich inmitten der lieblich romantischen Astrid Lindgren Welt.

 

 

Das besseres Wetter zieht mehr Kontakt mit Menschen nach sich. Als ich vor einem Supermarkt in einem kleinen Dorf ein Brot esse, bittet mich ein älterer Herr auf ihn zu warten, bis er wieder zurück kommen würde. 'Young lady, please wait here. I have a present for you.' Als er 10 Minuten später langsam und etwas wackelig wieder kommt, gibt er mir einen Hut mit Mückennetz. Er müsse mir diesen als Schutz geben, er hätte Angst, dass ich sonst aufgefressen werde.

An einem See kommt abends bevor ich ins Zelt huschen will ein ukrainische Päarchen an. Sie wollen noch Borscht kochen und laden mich ein. Da ich hundemüde bin, gehe ich allerdings ins Zelt und wir verabreden uns für den nächsten Morgen. Als ich gegen 10.30 Uhr aufbrechen will, wachen beide auf und lassen mich partout nicht aufs Fahrrad steigen bevor ich ihre Suppe esse. Aus der kurzen, leckeren! Suppe wird ein ein zweistündiges Gespräch inklusive Kaffee. Da beide leider kein Englisch sprechen, kommunizieren wir nur übers Smartphone und Übersetzungsapps. Irgendwie lustig. Noch vor ein paar Jahren wäre das Gespräch nur mit Hand und Fuß verlaufen. Heute können wir uns sogar in einer simplen Sprache über Politik austauschen.

 

 

Ich besuche das Eishotel in Kiruna und bin verzaubert von der Kunst, die mich umgibt. Jedes Zimmer ist mit Hand erbaut und individuell. Es herrschen -5°C und ich fühle mich zwischen all den majestätischen bauten wie eine Eisprinzessin. Gekühlt wird das Hotel übrigens mit Solarkraft, sehr effektiv, da die Sonne ja nicht untergeht.

 

Ebenso lerne ich viel über die Kultur und das Volk der Samen während eines Besuches in einem Samen-Dorf nahe Kiruna. Die Samen sind das einzige indigene Volk Europas. Und wie alle indigenen Völker haben sie eine lange Geschichte des Kampfes um Rechte und Traditionen hinter sich. Zentrale Bedeutung hatte und hat das Rentier. Sie leben mit und von dem Tier. Rentiere begegnen mir täglich auf der Straße und ich versuche die Kennzeichen an den Ohren auszumachen. Jedes Tier hat eine familientypische Markierung und somit ist deutlich, zu wem es gehört. Das Geweih macht jedes Tier unverwechselbar, denn es ist einzigartig. Übrigens kann das Geweih bis zu zwei Zentimeter am Tag wachsen.

 

 

Das Campieren ist ein absoluter Traum. Ich glaube ich habe in ganz Schweden nur einen Abend NICHT an einem See mein Zelt aufgestellt. Das war der letzte Abend bevor ich Stockholm erreichte. Ansonsten hatte ich jeden Abend traumhafte Spots mit eigener Wasser- und Badestelle. Ein wahres Paradies fürs Wildcampen und Reisen mit dem Fahrrad. Auch wenn ich einige Menschen treffe und liebenswerte Couchsurfer Hosts habe, bin ich doch die meiste Zeit alleine. Ich radele entlang wenig befahrener Straßen, beginne mit Mücken zu reden und brabele auch sonst ein wenig vor mich hin. Ich zelte an einsamen Seen und Wäldern. Stoppe, wenn ich Blaubeeren sehe und gehe in den Wald um ein paar Handvoll zu pflücken. Als ich förmlich über Pfifferlinge stolpere, koche ich mein Abendessen aus ihnen. Ich sitze vor meinem Zelt und genieße die Sonnenuntergänge über dem Wasser. Teilweise mache ich Feuer, sodass perfekte Lagerfeuerromantik herrscht. Ich bin alleine, aber nicht einsam. Dennoch genieße ich die Waldeinsamkeit. Das pure SEIN in der Natur. Keine Hunderte von Menschen um mich herum. Keine Zivilisation. Ich finde Stille und Ruhe. Empfinde absolutes Wohlsein. Und Freude.

 

 

IKEA, H&M, Astrid Lindgren... Einigen sagt der Midsommar-Brauch vielleicht noch etwas. Schweden ist aber mehr. Mein persönlicher Favourit ist wohl das Wort 'fika'. Die Übersetzung ist erstmal nicht mehr als 'Kaffee' oder 'Kaffeepause'. Tatsächlich aber ist es mehr als nur ein Wort. Es ist eine tief verankerte soziale Institution. Man trinkt alleine oder gemeinsam einen Kaffee, isst eventuell noch etwas Süßes oder ein belegtes Brot dazu. Im besten Falle hat man täglich mehrere fikas. Man trifft sich mit Freunden, Kollegen oder man hat mit sich selbst eine. Im Mittelpunkt steht hier die Gemütlichkeit und Entspannung. Das a.u.s.g.e.d.e.h.n.t.e Kaffeetrinken.

Nun habe ich endlich einen Namen und Legitimation für meine nachmittäglichen Kaffeepausen. Für mich ist es einer der schönsten Momente des Tages, wenn ich mir irgendwo ein lauschiges Plätzchen suche, vom Fahrrad steige und eine ausgedehnte Pause in der Sonne machen kann. Ich hole den Kocher raus und genieße eine Tasse Outdoorkaffee während die Bienen um mich summen, ich im Grünen sitze und einfach nichts mache.

 

 

Ein ebenso interessantes Wort, was man auch nicht so einfach übersetzen kann, ist 'lagom'. Es beudetet so viel wie 'gerade richtig', nicht zu viel und nicht zu wenig. Oder auch Mittelmaß. Ich bekam dieses Wort häufig als Antwort auf meine Frage zu hören, was denn typisch schwedisch sei. Es ist ein eigenes Wort und findet sich nicht so einfach in einer anderen Sprache wieder (außer norwegisch und finnisch). Es lässt sich nur erklären. Damit macht es sich selbst einzigartig und gleichzeitig die Schweden stolz. Es weist darauf hin, dass die Schweden den Mittelweg lieben. Alles ist lagom, die Politik, die Menschen, der eigene Lebenslauf. Man ist zufrieden, wenn es lagom ist. Es ist wie ein Ideal, wenn es lagom ist. Ein Zustand, der allgemeinen Zufriedenheit und des Mittelweges. An und für sich ja wunderbar, wenn ein ganzes Volk ständig zufrieden ist. Könnte einen ja neidisch machen.

Interessant war aber, was sich daraus für Diskussionen ergaben. Schweden wären teilweise zu sehr darauf bestrebt, lagom zu sein. Immer mit allen Gesprächs- oder Verhandlungspartnern in Übereinstimmung sein zu müssen. Man hätte Angst anzuecken. Ebenso würde manchmal eben auch Kritik vermisst. Anstatt immer mit dem gegebenen Zustand zufrieden zu sein, könnte man eben auch mehr tun. Auf etwas aufmerksam machen, etwas weiter entwickeln, etwas verbessern. Eben nicht immer nur mit dem status quo zufrieden zu sein (auch wenn dieser im Vergleich zu anderen Nationen sehr erstrebenswert ist).

 

An dieser Stelle ein großes Dankeschön an euch Leser. An die Verfasser von Kommentaren, lieben E-mails, aufmunternden Worte, Fragensteller und an die Unterstützer des Spendenbuttons!

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Nina Fischer (Mittwoch, 06 September 2017 21:24)

    Huhu Anna,

    wollte dir nur schreiben, dass das Angebot noch steht bei uns unterzukommen. Wir sind die ersten beiden Oktoberwochen in Smaland, zwischen Vaxjö und Jönköpping. Das Haus hat 10 Betten, also genug Platz ist da. Es ist rot und liegt auch an einem See. Du bist eingeladen.
    Baby-Jon ist auch mit dabei ^-^ und Anna und Ida.

    Liebste Grüße.
    Nina

  • #2

    Andi (Donnerstag, 07 September 2017 05:35)

    Sehr schön geschriebenener Blogeintrag mit beeindruckenden Bildern� Macht Lust auf Schweden.

  • #3

    Nico (Donnerstag, 07 September 2017 15:04)

    Danke für die persönlichen Einblicke in Deine Reiseerfahrungen. Die beiden Wörter sind schön beschrieben und vermitteln noch etwas mehr als schöne Bilder eines Landes.
    Stay strong & best of luck für Dich.
    ;-)